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Kurzgeschichten und Gedichte

Mein Nachbar

Nach einem langen und harten Arbeitstag bog ich endlich in die Straße zu meiner Wohnung ein. Völlig erschöpft nach einem anstrengenden Fußmarsch kramte ich in meiner Hosentasche nach meinem Wohnungsschlüssel. Allerdings war da kein Schlüssel. Das konnte doch nicht wahr sein! Der Schlüssel befand sich nicht darin. Auch das noch! Der Tag hatte schon so verkorkst angefangen und nun ging die ganze Farce auch noch weiter.

Nach dem mein uralter Wecker heute Morgen schon den Geist aufgegeben hatte und ich nach mehr als einer Stunde von einem wütenden Anruf meines Chefs geweckt wurde, hastete ich überaus eilig aus der Wohnung und musste schließlich an der Straßenbahnhaltestelle feststellen, dass mein Portemonnaie noch auf dem Küchentisch in meiner Wohnung lag. Und mit darin meine Fahrkarte. Zum Glück fand ich in meiner Hosentasche noch etwas Kleingeld, so dass ich mir einen Fahrschein kaufen konnte.

Auf dem Nachhauseweg reichte natürlich das Geld nicht mehr. Also musste ich laufen. Das der Schlüssel auch noch in der Wohnung lag stellte die Glanznummer dieses furchtbaren Tages dar. Glaubte ich zumindest. Falsch gedacht. Der Höhepunkt war der leere Akku meines Handys! Somit konnte ich nicht einmal mehr meine Mutter anrufen, der ich in weiser Voraussicht vor Jahren einen Zweitschlüssel aushändigte.

Zu Hause angekommen stand ich also vor verschlossener Tür. Doch nicht alleine. Herr M. stand auch da. Mit griesgrämiger Miene. Herr M. ist mein Nachbar aus der gegenüberliegenden Wohnung. Ich nenne ihn deshalb Herr M., weil auf seinem Klingelschild nur ein M steht. Wie Herr M. wohl seine Post bekommt? Woher wissen die Postboten überhaupt, dass er der richtige Herr M. ist? Aber ich hatte wichtigere Fragen zu lösen, deshalb verscheuchte ich diese aus meinem Kopf.

Außer einem flüchtigen Gruß auf dem Hausflur gab es bisher keine nennenswerte Konversation zwischen Herrn M. und mir. Ich wusste auch sonst nicht viel über ihn, außer dass er irgendwas mit Aktien machte. Das hatte der Verwalter bei meinem Einzug erzählt. Er handle wohl im Bereich Binäre Optionen. Doch davon verstehe ich nichts.

Um mir nicht die Blöße zu geben, ging ich zielstrebig auf die Haustür zu und tat so, als ob ich in der Tasche nach meinem Schlüssel suchte, um dann mit vielem Fluchen zu verstehen zu geben, dass dieser wohl noch in meiner Wohnung liege. Herr M. begriff anscheinend den Wink mit dem Zaunpfahl nicht. Weiterhin starrte er mit grimmiger Miene an mir vorbei und tat so als ob er mich nicht sehen würde. Auf meine Frage ob ich mal sein Handy benutzen dürfte, murmelte er etwas davon, dass sein Handy in der verschlossenen Wohnung liege.

Da standen wir also, zwei Männer mit dem gleichen Schicksal. Ausgesperrt, mittellos und betrübt. Nach einer Weile des Schweigens meinte Herr M. zu mir, dass er jetzt mit dem Auto in ein Hotel fahren würde. Ob er mich mitnehme solle. Dankend willigte ich ein, ohne zu wissen wo er mich absetzen könnte. In seinem Auto kam mir die Idee den Zweitschlüssel von meiner Mutter zu holen. Ich unterbreitete ihm mein Ziel mit der Idee, er könne ja aus meiner Wohnung einen Schlüsseldienst rufen. Ohne weitere emotionale Regung nahm er meinen Vorschlag an. Also fuhren wir los.

Nachdem wir nach einem kurzen Update meiner Mutter über allen möglichen Klatsch und Tratsch, endlich mit meinem Zweitschlüssel in der Hand vor unserer Wohnungstür standen sah ich das Ende schon in Sicht. Als wir die Treppe hochgingen bemerkten wir beide, ich und Herr M., dass der Schlüssel von Herrn M. noch in der Tür steckte. Bevor ich mir einen passenden Spruch über Hektik und Zeit überlegen konnte, verschwand dieser ohne weitere Verabschiedung in seiner Wohnung.

Als ich die Tür aufschloss, fragte ich mich noch immer, wie Herr M. seine Post bekäme, und stellte fest, dass ich ihn mal hätte fragen sollen. Aber manche Fragen würden wohl für immer unbeantwortet bleiben.

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